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Jenseits der Gleichheit

Weniger Verbissenheit, mehr Gelassenheit: Plädoyer für eine beherzte Geschlechterdifferenz.
Von Hans Ulrich Gumbrecht

Warum eigentlich erinnern uns Worte wie «Freiheit» oder «Gleichheit» an das Nationalhymnen-Ritual zu Beginn von internationalen Sportereignissen und an schlecht singende Athleten, denen die Vokabeln eher mit Peinlichkeit als mit Passion über die Lippen gehen? Und warum war mit der Losung «Mehr Gerechtigkeit», die sich groteskerweise fast alle deutschen politischen Parteien als Geste der Differenzierung auf die Fahnen schrieben, bei der jüngsten Bundestagswahl kein Blumentopf zu gewinnen? Es gibt darauf zwei sich ergänzende Antworten.

Erstens stammt das Pathos solcher Begriffe aus der lange vergangenen Zeit der bürgerlichen Revolutionen und Reformen um 1800. «Freiheit» markierte den Gegensatz zur Fremdbestimmung der Untertanen in einem Gemeinwesen, das vor allem auf die Interessen der schmalen aristokratischen Oberschicht ausgerichtet war. «Gleichheit» kam als Alternative zu angeblich gottgewollten, über Geburt oder Beruf ererbten Privilegien der höheren Stände ins Spiel. Und als «gerecht» sollte die Aufhebung all dieser Asymmetrien gelten.

Zweitens ereignete sich zeitgleich zur politischen Umwälzung die Herausbildung jenes bis heute geltenden historischen Weltbilds, in dem sich akkumulierte Wirkungen der Veränderung entweder als Bewegungen des Fortschritts oder des Niedergangs darstellen – und in dem Beständigkeit schlichtweg undenkbar scheint. Für jene neuen bürgerlichen Werte bedeutete dies, dass sie bald auf unendliche Vervollkommnung gestellt wurden (auf «perfectibilit ´e», wie man damals sagte). Deshalb galten sie in den aufgeklärten westlichen Nationen mit dem Recht auf individuelle Selbstentfaltung und dem garantierten Status der Gleichheit vor dem Gesetz noch keinesfalls als verwirklicht. Vielmehr wurden sie nun zu Projekten der Aufklärung, die immer weiter fortzubilden waren, ohne je in einen Stillstand zu münden.

Reflexion tut not

Sozialismus und Feminismus sind die beiden bis heute sichtbarsten Bewegungen, die unter dem Vorzeichen historischen Fortschritts die schon erreichte rechtliche Gleichheit zum einen durch wirtschaftliche Gleichheit und zum anderen durch Gleichheit in den Verhaltensnormen der Geschlechter überbieten sollten. Dabei ist allerdings die Forderung wirtschaftlicher Gleichheit seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in eine Phase der Reflexion und der Selbstkritik eingetreten, vor allem aufgrund der verheerenden Folgen des Versuchs, sie in staatssozialistischen Systemen herbeizuzwingen.

Wenn absolute Gleichheit des Besitzes zur Stagnation der Wirtschaft und mithin entgegen ihren Zielen zu einer Verbreitung der Armut und wenn absolute wirtschaftliche Freiheit zu sozial untragbaren Extremen der materiellen Ungleichheit geführt hatten, dann war die Entwicklung eines neuen umverteilenden Wohlfahrtsstaates als Aufgabe gestellt. Er wurde nach 1950 wohl zuerst in Skandinavien verwirklicht – mittels eines Kompromisses zwischen durch Steuerprogression gezügelter Ungleichheit und eingeschränkter wirtschaftlicher Freiheit.

Eine ähnliche praktisch wirksame Phase von Selbstreflexion hat der Feminismus nie durchlaufen. Allenfalls während der siebziger und achtziger Jahre leuchteten kurz einige brillante Ansätze auf, vor dem Hintergrund weitgehend erreichter gesetzlicher Gleichheit geschlechtsspezifisch verschiedene Gesten des Denkens zu beschreiben. Mit ihrem 1975 veröffentlichten Buch «Das Lachen der Medusa» etwa wollte die französische Autorin H ´ el `ene Cixous Frauen ermutigen, die Identität ihrer Körper als Inspiration für andere Formen des Schreibens zu erleben, die dann als Alternativen zur patriarchalischen Herrschaft eine Freiheit für neue Lebensformen erstreiten sollten.

Wenige Jahre später antwortete der Philosoph Jean-Fran¸cois Lyotard auf die Frage, ob man «ohne Körper denken könne», mit einem philosophischen Dialog, in dessen Verlauf sich die Stimmen von «ihr» und «ihm» immer weiter ausdifferenzierten – bis hin zu der Auffassung, dass allein Frauen aufgrund ihrer körperlichen Möglichkeit, durch Schwangerschaft und Gebären Ursprung neuen Lebens zu sein, existenzielle Dimensionen des Leidens zur Sprache zu bringen vermögen. Und noch 1995 versuchte die amerikanische Philosophin Judith Butler in ihrem Traktat «Körper von Gewicht», feministische Debatten an die Notwendigkeit zu erinnern, anatomische und physiologische Unterschiede in ihren Folgen für individuelles und kollektives Leben anzuerkennen. Doch die feministischen Reaktionen auf Butlers Buch zeigten einen Ton aggressiver Polemik, der die Autorin wohl davon abgehalten hat, ihren Denkansatz entschieden weiterzuentwickeln. So wurde eine entscheidende Chance kritischer Selbstreflexion vertan. Man kann den Ausgangspunkt jener lähmenden Polemik als eine Ontologisierung des juristischen Prinzips von der Gleichheit der Geschlechter auffassen. Anders gesagt: als eine Überführung der Forderung, dass Frauen und Männer vor dem Gesetz gleich sein müssen, in zwei problematische Behauptungen über die soziale Wirklichkeit.

Vorwürfe und Unterstellungen

Nach der ersten Behauptung soll der binäre Unterschied zwischen Mann und Frau eine der Männerherrschaft dienende blosse soziale Konstruktion sein («Heteronormativität» heisst der daraus abgeleitete Vorwurf). Zweitens wird unterstellt, dass angesichts einer angeblich unendlichen Vielfalt möglicher Verhaltensformen gerade das Ausbleiben markanter Unterscheidungen der menschlichen Realität entspreche (seither wird häufig der Begriff eines Kontinuums gegen die Annahme deutlicher Differenzen gekehrt).

Um nun diese Sichtweise von einer unendlichen Vielfalt der körperlichen und sozialen Formen als zutreffend zu belegen, haben sich Feminismus und Gender-Theorie über die vergangenen Jahrzehnte beinahe ausschliesslich auf statistisch gesehen exzentrische Situationen der Existenz konzentriert, vor allem auf die Varianten von Homo-, Bioder Transsexualität. Dass dadurch – wenigstens unter Intellektuellen – eine nie da gewesene Toleranz, ja eine profunde Empathie gegenüber bestimmten sozialen Minderheiten entstehen konnte, gehört zu den Verdiensten meiner Generation. Zugleich sind jedoch die vielfachen heterosexuellen Verhaltensformen aus dem Blick geraten, ja als ideologisch konstruiert und politisch repressiv angeklagt worden, in denen auch heute die meisten Zeitgenossen leben. Man kann also sagen, dass der Versuch, das Prinzip der Geschlechtergleichheit – ganz ohne kritische Reflexivität – zu verwirklichen, paradoxerweise im Ausschluss der auch heute breiten Mehrheit von Heterosexuellen endete. Hier liegt die Blindheit der Gender- Ideologie.

Wie wirksam diese Fehlentwicklung eines traditionellen Aufklärungswertes bis heute geblieben ist, kann man anhand eines Gedankenexperiments demonstrieren. Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, vielleicht nicht ganz zufällig in den Zeiten von Cixous und Lyotard, antwortete der Philosoph Hans Blumenberg auf eine damals vielen Prominenten vorgelegte Frage nach «bevorzugten männlichen und weiblichen Tugenden » in für mich plausibler und durchaus harmloser Weise mit den Begriffen «Anmut» (für Frauen) und «Gelassenheit » (für Männer).

Unterstellt war natürlich, dass sich auch Frauen zur Gelassenheit oder Männer zur Anmut entschliessen und entwickeln könnten. Als Gelassenheit sollte nicht nur eine Fähigkeit zur Ruhe angesichts hektischer Situationen gelten, sondern vor allem ein Bewusstsein von den Grenzen der Wirksamkeit eigenen Denkens und Handelns. Mit Anmut dagegen bezog sich Blumenberg auf Heinrich von Kleists klassischen Essay «Über das Marionettentheater» aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert, der die Schönheit und Eleganz körperlicher Verhaltensformen ohne Bewusstsein ihrer selbst beschreibt (und übrigens anhand einer männlichen Statue aus der griechischen Spätantike illustriert).

Ist das Sexismus?

Wer heute öffentlich eine solche Beschreibung zur Diskussion stellt (und in dieser Hinsicht ist mein Text ein praktisches Experiment), muss mit heftigster Kritik – nicht nur von feministischer Seite – in Gestalt des Vorwurfs rechnen, Frauen auf blosse Schönheit und mithin zu einem gesellschaftlichen Ornament reduzieren zu wollen. Dabei gibt es doch keinerlei systematische oder praktische Gründe, die Möglichkeit einer anmutigen Staatschefin auszuschliessen – zumal wenn es bisher noch keine Verwirklichung dieser Möglichkeit gegeben haben sollte. Ausserdem bezieht sich der Begriff der Gelassenheit als männliche Tugend ebenso auf die ästhetische Dimension unseres Verhaltens. Und schliesslich ist mit einem solchen Vorschlag kein normativer Anspruch auf Erziehungsformen verbunden, welche Mädchen zur Anmut und Jungen zur Gelassenheit drängen. Er entspringt allein dem Wunsch, in einem Alltag mit denkbar vielen verschiedenen und möglichst attraktiven sozialen Typen zu leben. Dieser Wunsch bedarf keiner politischen oder ethischen Rechtfertigung. Denn soziale Typen und ihre Beschreibung unter Ausklammerung aller ästhetischen Aspekte auf ihre Leistungen zu beschränken, kommt einer moralisch begründeten Selbstbestrafung gleich – vor allem für jene Mehrheit von Zeitgenossen, die sich selbst nicht als primär exzentrisch verstehen. Aber vielleicht kann und muss man noch einen Schritt weiter gehen. Die Durchsetzung absoluter Gleichheitspostulate im täglichen Verhalten, darin stimmen jedenfalls zahlreiche soziologische Theorien überein, hat ein Anwachsen kollektiven Ressentiments zur Folge und mithin ein wachsendes Risiko von Gewalt. Genau so mag der angeblich allgegenwärtige Populismus unserer Gegenwart entstanden sein. Es ist jedenfalls höchste Zeit, die Ideologie der Geschlechtergleichheit auf Reflexion umzustellen.

Hans Ulrich Gumbrecht ist Albert-Guérard- Professor für Literatur an der kalifornischen Stanford University.

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 URL:  Created: 2017-11-21  Updated:
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