[Main topics] [Navigation]

Wer Hexen sucht, wird sie auch finden

Manchmal sieht selbst die Wissenschaft Gespenster. Damit müssen wir leben. Etwas Skepsis kann dabei helfen.

Von Volker Reinhardt

verschwommenes bild von menschen auf einem platz

Wir sehen die Wahrheit durch einen Spiegel, verzerrt oder verschwommen, auch wenn wir alle Sorgfalt walten lassen, welche die Wissenschaftlichkeit fordert. Bild: Simon Tanner, NZZ

«Die Hexen in meiner Nachbarschaft geraten regelmässig in Lebensgefahr, wenn ein neuer Autor auftaucht, der ihre Hirngespinste für bare Münze nimmt.» Diesen Satz – einen der schönsten, die je gedacht und verfasst wurden – schrieb Michel de Montaigne um 1580 so gelassen wie mutig und vor allem mit unnachahmlicher Ironie nieder. «Die Hexen in meiner Nachbarschaft» – allein schon diese Formulierung liess den Hexenwahn, der zwischen 1560 und 1630 Zehntausende unschuldiger Opfer forderte, wie ein Kartenhaus zusammenfallen.

Was die Experten des 16. Jahrhunderts – denn sie sind mit den Autoren gemeint, die ihrer Sache so sicher sind – für Hexenwerk, also das Zusammenwirken böser, neidischer, machtgieriger Frauen mit dem Teufel hielten, war für den gelassenen Menschenforscher Montaigne in seinem Schlösschen bei Bordeaux eine fatale Kombination aus Verfolgungswut, Karrieregeilheit, Ignoranz, Fanatismus und falscher Gelehrsamkeit, also aus Verhaltensweisen und Eigenschaften, die zusammengenommen den gesunden Menschenverstand mühelos auszuschalten vermochten.

Der Einspruch dieser nüchternen Ratio aber besagte: Glaubt ihr wirklich, dass die Frauen in eurer Nachbarschaft auf dem Besen zum Sabbat mit dem Teufel reiten? Mit seiner Meinung, dass es keine Weltverschwörung der Hexen zur Vernichtung der Schöpfung, sondern stattdessen ein unausschöpfliches Potenzial menschlicher Niedertracht gab, das sich in der Verfolgung der angeblichen Teufelsbündlerinnen austobte, stand der weltkluge Gascogner allerdings fast allein auf weiter Flur.

Die Gutachten der Spezialisten, vor allem der Theologen und Juristen, behaupteten das Gegenteil, die überwältigende Mehrheit der Europäerinnen und Europäer glaubte ihnen aufs Wort – und gehorchte devot. So erdachten die folgsamen Rechtsgelehrten, von den Gottesgelehrten aller Konfessionen beraten, die Notstandskonstruktion des «Ausnahmeverbrechens», in dem die Strafverfolgungsbehörden alle Regeln der Rechtsstaatlichkeit ausser Kraft setzen und nach Herzenslust foltern durften – bis ein «Geständnis» vorlag.

Auch mit seinem Urteil über die damals tobenden «Religionskriege» zwischen katholischen und reformierten Adelsparteien lag Montaigne quer zu seinen Zeitgenossen, die entweder für die eine oder die andere Seite votierten. Seiner Ansicht nach aber hatte niemand recht, da alle Seiten die Religion nur als Vorwand zum hemmungslosen Ausleben ihrer zerstörerischen Neigungen und Triebe benutzten. Und für undurchsichtige Rechtsfälle frönte er dem Grundsatz, den der höchste athenische Gerichtshof den Klägern schon vor zweitausend Jahren ans Herz gelegt hatte: Kommt in hundert Jahren wieder!

Die Wahrheit ist anderswo

Für Friedrich Nietzsche war Montaigne der Lebenslehrer, dem er gefolgt wäre, hätte man ihm die Aufgabe gestellt, auf dieser Welt heimisch zu werden – was er nie wurde und wohl auch nicht werden wollte. Trotzdem ist Nietzsches wunderbarer Satz bis heute aktuell. Montaignes Leitspruch lautete: «Que sais-je?» Was weiss ich? Und was kann ich wie, mit welchen Methoden sicher wissen?

Auf das Jahr 2020 umgemünzt, lautet dieses Motto: Was kann ich zu den drängenden Problemen der Zeit, konkret: zum Klimawandel und zur «Corona-Krise», wissen, was kann, darf oder muss ich glauben oder auch nicht, wo ist die Grenze zur Leichtgläubigkeit oder zum Sektierertum, zum Mitläufertum oder zum Verschwörungswahn überschritten? Diese Frage ist, legt man Montaignes Kriterien der Wahrheitsfindung beziehungsweise der Nichtauffindbarkeit der Wahrheit zugrunde, sehr viel schwieriger zu beantworten, als es der Mainstream der Medien wahrhaben will, die sehr schnell mit gravierenden Abqualifizierungen bei der Hand sind.

Dass es in seiner Nachbarschaft keine Hexen gibt, konnte Montaigne überprüfen – er kannte die Verdächtigen und wusste, dass sie nicht zaubern konnten. Ausserdem sprach er mit Frauen, die unter dieser Anklage eingekerkert waren, und kam zum Ergebnis, dass es dabei um Einbildung ging, eingeredete und selbsterzeugte. Auch die Akteure der «Religionskriege» kannte er aus eigener Anschauung gut genug, um ihre Motive zu ermessen.

In allen anderen Zweifelsfällen und Kontroversen, in denen eine eigenständige Analyse auf der Grundlage von kritischem Augenschein und daraus gezogenen Rückschlüssen unmöglich war, verhielt er sich skeptisch – es kann so sein oder auch nicht. Passiv verhielt sich Montaigne trotzdem nicht. In den mörderischen Konflikten, die sein Frankreich verwüsteten, nahm er für die Partei des Ausgleichs und der Befriedung, also für König Heinrich IV., Partei, der sechs Jahre nach seinem Tod das Toleranzedikt von Nantes erliess.

Wendet man diesen Grundsatz der konsequenten Hinterfragung, umgemünzt in das wissenschaftliche Prinzip rigoroser Quellenkritik, in der Gegenwart an, so tun sich unüberwindlich scheinende Probleme auf. Ausser einer sehr kleinen Gruppe von Klimaforschern, denen man dies zutrauen mag, kann niemand das Phänomen der globalen Erwärmung selbständig, mit eigenen Recherchen und damit unabhängig von fremden Meinungen, beurteilen oder gar überprüfen.

Welchen Wert die in diesem Zusammenhang möglichen selbständigen Beobachtungen, etwa zu Temperaturen und Niederschlägen der letzten Jahre, haben, ist zudem immer unsicher: Handelt es sich um zufällige Oszillationen oder um signifikante Abweichungen, die Langzeitentwicklungen widerspiegeln? Eine ehrliche Bestandsaufnahme führt daher zu dem Ergebnis, dass man es selber nicht weiss – ein für jeden Wissenschafter, der eigentlich nur auf der Basis eigener Wahrheitsfindung urteilen und handeln darf, deprimierendes Fazit.

Nichts tun geht nicht

Passivität aber ist keine Lösung, denn wenn die Mehrheitsmeinung richtig ist, steht das Überleben der Menschheit auf dem Spiel. Derselben Meinung waren die Hexenverfolger des Jahres 1580, recht aber hatte der Querdenker Montaigne. Doch spätestens hier beginnt der Vergleich zu hinken («Von den Hinkenden» lautet nicht zufälligerweise auch der Titel von Montaignes Hexen-Essay).

Montaigne selber nahm in einer Situation, in der Nicht-Handeln fatal gewesen wäre, auf eine Weise Partei, die für ihn die grösste Schnittmenge von Recht und Güte hatte: für die alte, katholische Religion, aber für einen reformierten Herrscher, der für Menschlichkeit und Ausgleich stand.

Wendet man diese Prinzipien auf die Klimaproblematik an, so läuft die Haltung in der Nachfolge Montaignes darauf hinaus, der Majorität der Experten zu glauben, doch stets im Wissen, dass es reine, interesselose Wissenschaft nicht gibt, dass Interessen politischer und ökonomischer Art auf dem Spiel stehen, dazu im Bewusstsein, von fremden Einschätzungen abhängig zu sein, und daher mit einer gewissen Duldsamkeit gegenüber «Ungläubigen», die es mit nüchterner Quellenkritik zu überzeugen gilt.

Anders sieht es in Sachen Covid-19 aus. Hier sind die Meinungen der Experten im Kleinen und Grossen von verwirrender Unterschiedlichkeit, konnte man doch allein in der letzten Woche von zwei Virologen, also nach professionellen Kriterien ausgewiesenen Experten, vernehmen, dass der Lockdown der letzten Monate weltweit drei Millionen Menschenleben gerettet habe oder schlicht überflüssig gewesen sei.

Eine ähnlich extreme Divergenz der Urteile musste man schon lange vorher in Sachen Nützlichkeit, Nutzlosigkeit oder Schädlichkeit von Schutzmassnahmen zur Kenntnis nehmen, wobei die vollzogenen Meinungswechsel zusätzlich irritierten. Vollends für Verwirrung sorgte das Datenmaterial. Warum die Mortalität in Norditalien um ein Vielfaches höher lag als in Deutschland, wie viele Menschen nicht nur «im Zusammenhang mit dem Coronavirus», sondern unmittelbar an der Infektion mit diesem gestorben waren – solch zentrale Fragen wurden entweder gar nicht oder widersprüchlich beantwortet.

Daraus allein ist niemandem ein Vorwurf zu machen. Im Gegenteil, es ist für die Öffentlichkeit heilsam, zu lernen, dass Wissenschaft keineswegs immer mit Wissen gleichzusetzen ist und der Begriff «Experte» inflationär verwendet wird. Allerdings stellt sich im Sinne Montaignes die Frage, ob im Falle nicht gesicherten Wissens nicht mit mehr Augenmass und Behutsamkeit statt mit einem so wuchtigen Lockdown hätte reagiert werden müssen. Diese Frage werden die Historikerinnen und Historiker vielleicht in hundert Jahren beantworten. Bis dahin ist im Sinne Montaignes mehr Offenheit und Toleranz in der Debatte darüber wünschenswert.

Volker Reinhardt ist Professor für allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Freiburg i. Ü. 2019 erschien bei C. H. Beck sein Buch «Die Macht der Schönheit. Kulturgeschichte Italiens».

[Main topics] [Navigation]
 URL:  Created: 2020-06-24  Updated:
© NZZ und andere    
  Business of Docu + Design Daube Documentation issues Sharing information Klaus Daube's personal opinions Guests on this site Home of Docu + Design Daube To main page in this category To first page in series To previous page in series To next page in series To bottom of page To top of page Search this site Site map Mail to webmaster