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Eine nue Religion

Die Gendertheorie will Unterschiede einebnen, doch sie ist zutiefst antiaufklärerisch.

Giuseppe Gracia

Genug feminin - eine durchguck-kleidung.
Alle Wege stehen offen, auch alle geschlechtlichen, verspricht die Genderbewegung. Sie leugnet damit die Wirklichkeit. Bild: Jan Pitman / Getty

Der Genderstern, Symbol der Genderbewegung, sorgt zuverlässig für Kontroversen. Soll die Gendersprache für alle verbindlich werden? Zustimmung oder Ablehnung hängen davon ab, wo man die Genderbewegung weltanschaulich verortet. Geht es um Inklusion, wie oft behauptet wird, gerade von den Protagonisten der Bewegung? Gegen Diskriminierung und Sexismus? So viel ist klar: Wenn es so wäre, müsste eine offene, tolerante Gesellschaft das Gendern willkommen heissen.

Doch mit dem Genderstern ist ein grösseres Programm verknüpft. Zur Vermeidung jeglicher Überlegenheit des einen oder anderen Geschlechts, der einen oder anderen sexuellen Ausrichtung hat man sich zum Ziel gesetzt, die Unterschiede zwischen Mann und Frau einzuebnen, indem man sie als blosse Auswirkungen historisch-kultureller Gegebenheiten betrachtet. Damit wird die leibliche Verschiedenheit, Geschlecht genannt, auf ein Minimum reduziert, während die kulturelle Dimension, Gender genannt, akzentuiert und für vorrangig gehalten wird.

Der geschlechtslose Mensch

Das ist keine Beschreibung bestehender Konstellationen, sondern eine Proklamation politischer Vorgaben. Die herrschenden Verhältnisse sollten verändert, sprich: überwunden werden. Aktivismus ist insofern nicht nur gewünscht, sondern geboten. Es geht mithin darum, eine neue Anthropologie durchzusetzen, gegen das jüdisch-christliche Menschenbild, das für den Westen über Jahrhunderte wesentlich war und nun als reaktionär empfunden wird. Gemäss Judentum und Christentum ist der Mensch eine Leib-Seele-Einheit, geschaffen als Mann oder Frau. Er ist ein körperliches und geistiges Wesen, aber nicht im Sinn eines Dualismus, als bestehe zwischen Körper und Geist eine Gegensätzlichkeit. Geist und Materie bilden eine einzige Natur – eine männliche oder weibliche Natur. Der weibliche und männliche Leib des Menschen ist also kein Anzug, den man wechseln kann, sondern eine körperliche Realität, die für den Menschen konstitutiv ist.

Diese Anthropologie soll nun eben überwunden werden. Bekanntlich sagte schon Simone de Beauvoir: «Man wird nicht als Frau geboren, sondern man wird dazu.» Das Weibliche wird hier als Konvention verstanden, als Rollenzwang. Die Genderbewegung wendet diesen Gedanken nun auf die Identität des Menschen überhaupt an. Diese sollen wir nicht mehr als teilweise oder mehrheitlich naturgegeben betrachten. Stattdessen sollen wir erkennen: Rollenzwänge sperren uns in weibliche und männliche Korsette, während die Identitäten in Wahrheit fliessend sind.

Nun stimmt es natürlich, dass vieles, was Frauen und Männer tun, gesellschaftlich-kulturell vorgegeben ist und sich die Ideale im Laufe der Zeit ändern. Doch dies bedeutet nicht, dass die Unterschiede zwischen Mann und Frau bloss eine Folge von sozialen Rollen sind oder dass mein Körper eine Knetmasse meiner Wünsche darstellt. Es bedeutet auch nicht, dass die Genderbewegung richtig liegt, wenn sie einem neuen Spiritualismus verfällt, indem sie die essenzielle Bedeutung des Leibes leugnet und so tut, als sei der Mensch letztlich nur Geist und Wille zur Selbstformung.

Die Sprache ist kein Zauberstab

Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass die Genderbewegung mit den Naturwissenschaften wenig anfangen kann. Die Forschung auf dem Feld der Evolutionsbiologie oder der Neurologie hat Elementares über Mann und Frau zu sagen, spätestens seit Darwins These der sexuellen Auslese (Selektion). Weibliche Tiere verfügen über wenige, grosse Eizellen, männliche Tiere über viele, kleine Spermien. In der Folge müssen «billige» Spermien um «kostbare» Eizellen werben. Männchen investieren in die Balz und konkurrieren untereinander, Weibchen investieren in die Brutpflege. Das sind Verhaltensmuster, die durch nahezu alle Kulturen zu beobachten sind. Natürlich gibt es Ausnahmen und Abweichungen, doch diese bestätigen die Regel und widerlegen nicht die wesentliche Bedeutung von Biologie für das Verhalten von Mann und Frau. Naturwissenschaftlich gesehen ist die Dualität der Geschlechter eine unhintergehbare Naturvorgabe. Eine Vorgabe, die sich auch mit einer elaborierten Gendersprache nicht wegzaubern lässt.

Tatsächlich sind mit dem Gendern sprachmagische Tendenzen verbunden. Normalerweise wird Sprache durch die Welt geformt, die wir vorfinden. Wir sehen Bäume oder Vögel und fassen es in Sprache, um zu kommunizieren, um Daseinserfahrungen zu beschreiben. Die Natur gibt vor, was ist, die Sprache nimmt es auf – nicht umgekehrt. Die Sprache ist kein Zauberstab, mit dem wir etwas in die Welt hineinbefehlen können, was vorher nicht da war. Die Gendersprache arbeitet jedoch auf diese Weise: Sie bezeichnet etwa 70 Geschlechter oder beschreibt eine theoretisch unbegrenzte Anzahl gefühlter Identitäten, die in der Welt nicht wie Bäume oder Vögel vorkommen. Es sind Geschlechter und Identitäten, die nur im Gender-Sprachspiel vorkommen.

Diese Abkoppelung von der materiellen Welt ist typisch für die Genderbewegung. Geistesgeschichtlich reiht sie sich damit ein in die Tradition der Gnostiker der Antike. Die Gnostiker waren der Überzeugung, dass die niedrige, materielle Welt überwunden werden müsse, dass der Körper des Menschen ein Gefängnis sei. Das Ziel war der Sieg des freien Geistes über die Materie. Gender ist eine zeitgenössische Spielart dieser Religion. Ihr Ziel ist der Sieg der frei gewählten geschlechtlichen Identität über das biologische Geschlecht, der Sieg des gefühlten, gewünschten Selbst über die Vorgaben eines männlichen oder weiblichen Körpers. Im Laufe der Jahrhunderte gab es verschiedene gnostische Strömungen, auch im syrischen und persischen Umfeld des alten Orients. Ihr gemeinsamer Kern war die Absage an eine Natur, die dem Menschen Grenzen setzt, die ihn zum Geschöpf macht. Der Gnostiker will kein Geschöpf sein, sondern selber Schöpfer. Er will Gott sein und sich selber schaffen. In der heutigen Gendervariante will er zumindest Gott sein über seine geschlechtliche Identität.

So gesehen ist der gegenwärtige Vormarsch der Gendersprache in Bildungseinrichtungen, in Kultur, Politik oder behördlichen Dokumenten ein Vormarsch des Irrationalismus. Die Folgen davon werden sich nicht in Geburtsurkunden erschöpfen, die ein weibliches oder männliches Baby nicht mehr als solches bezeichnen, oder in Männern, die sich als Frau fühlen, auf Frauentoiletten gehen und im Frauensport gegen Frauen antreten, um zu gewinnen. Es ist eine Wirklichkeitsverweigerung, die sich gegen die kulturellen Wurzeln des Westens selbst richtet.

Irrationalismus entgegentreten

Die westliche Kultur verdankt sich keinen Selbstvergottungsträumen und auch keinen spiritualistischen Sprachmagiern. Sie verdankt sich der jüdisch-christlichen Tradition, die offen ist für Vernunft und Wissenschaft. Der Westen steht auf dem geistigen Boden von Rom, Athen und Jerusalem. Er ruht auf dem römischen Recht, der antiken griechischen Philosophie sowie dem Judentum und Christentum. Zu diesen Quellen gehört die Bejahung von Welt und Natur als Voraussetzung für Erkenntnis, Forschung und Fortschritt. Daraus fliesst auch die Erkenntnis, dass Mädchen als Mädchen und Knaben als Knaben geboren werden (von ganz wenigen Ausnahmen, den Hermaphroditen, abgesehen). Angesichts von Gender muss man neu an diese Tatsachen erinnern und dem Irrationalismus die Grundlagen der Aufklärung entgegenhalten, etwa mit Immanuel Kant: «Alles, was die Natur selbst anordnet, ist zu einer Absicht gut. Die ganze Natur überhaupt ist nichts anderes als ein Zusammenhang von Erscheinungen nach Regeln.»

Eine liberale Gesellschaft muss sich für Inklusion und gegen Diskriminierung von Minderheiten engagieren. Doch die Genderbewegung ist dafür leider nicht geeignet. Denn ein Westen, der nicht mehr zwischen Mann und Frau unterscheiden kann, zwischen Natur und Kultur, wird bald auch nicht mehr unterscheiden können zwischen Wissen und Aberglauben, Sinn und Unsinn.

Giuseppe Gracia (53) ist Schriftsteller, Publizist und Kommunikationsberater. Sein neuster Roman, «Der letzte Feind», ist erschienen im Fontis-Verlag, Basel.

Leserbriefe in der NZZ vom 2021-06-18: Gendern —«dämlich» oder «herrlich»?

Gendern stört nicht nur den Sprachfluss, sondern auch die Sprachmelodie und das Sprachverständnis (NZZ 25. 4. 21 und 9. 6. 21). Sprache soll klar sein und Gedanken transportieren; die Inklusion verschiedener Geschlechter in ein Genus dient oft der Verständlichkeit. Wenn man will. Dass sich jetzt die Sprache persönlichen Befindlichkeiten unterordnen soll, ist stossend und kommunikationsfeindlich. Ich habe mich in meinem Beruf und Leben als Frau immer als Teil der ganzen Community gesehen. Gendern verstehe ich als Herabsetzung in eine Teilmenge. Wie heissen eigentlich die gendergerechten Pronomina (bisher er/sie/es) der LSBQ-Community? – ersie?, bersie?, quersie?, qit?, qes?, qu?, qer? Ersie geht in den Garten, bersie kocht, qer lacht, qu isst, qersie singt? Die fehlende Toleranz in Sachen Sprache ist kleinlich, aufgeregt, nicht sachdienlich und führt bei Konsequenz ins unverständliche Groteske.

Maia Funk-Baumann, Zürich

In letzter Zeit erscheinen in der NZZ vermehrt Artikel, in denen man mehr oder weniger offene Kritik insbesondere an aggressiven Formen der Gendersprache (z. B. Binnen-I, Genderstern, Doppelpunkt, Unterstrich) übt. Ich begrüsse dies, da für mich das generische Maskulinum nach wie vor die einzig korrekte Form der deutschen Sprache ist. Gendersprache ist zwar durch die Meinungsäusserungsfreiheit abgedeckt. Ihre konsequenten, militanten Verwender (z. B. SRF) leben aber in einer Art Sekte. Sie gehört ausschliesslich ins rot-grüne Milieu und hat daher in einer bürgerlichen Qualitätszeitung keinen Platz.

Leider muss ich feststellen, dass bei der NZZ die linke Hand offenbar nicht immer weiss, was die rechte tut. Ich sehe einen Widerspruch zwischen publizierter Meinung und tatsächlichem Handeln. Auch die NZZ gendert, wenn auch eher massvoll. Sie spricht von «Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern», «Mitarbeitenden» und – was Verwirrung stiften kann – gebraucht weibliche Bezeichnungen, wenn auch Männer gemeint sind («Schulleiter und Lehrerinnen»). Immerhin verzichtet sie auf die oben genannten Varianten. Andernfalls müsste ich wohl mein Abonnement kündigen.

Es würde mich deshalb interessieren, weshalb die NZZ nicht (mehr) konsequent das generische Maskulinum verwendet. In jedem Fall verzichten – aus Gründen der Klarheit und Verständlichkeit – sollte die NZZ auf die Verwendung weiblicher Bezeichnungen, wenn nicht ausschliesslich Frauen gemeint sind. Generell ist Gendersprache möglichst sparsam zu verwenden. Die internen Sprachrichtlinien wären allenfalls entsprechend anzupassen. Als Zielsetzung für die NZZ sehe ich, Gegner der Gendersprache nicht vor den Kopf zu stossen und damit zahlende Kunden zu verlieren.

Hansruedi Kubli, Zürich

 

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 URL:  Created:2021-06-23  Updated:
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