[Main topics] [Navigation]

Auch Sprachnormen dienen der Gerechtigkeit

Sprache blüht nur in freien Gesellschaften. Eine ideologisch begründete Revolutionierung der Sprache funktioniert selten. Das zeigen Beispiele in der Geschichte.

Gastkommentar von Zsuzsa Breier

 

Menschen, die nicht gendern mögen, bekommen nicht selten den «Reaktionär»-Stempel aufgedrückt. Als jemand, der im kommunistischen Ostblock sozialisiert wurde, habe ich ein besonders sensibles Verhältnis zu dem Stempel «reaktionär».

Im sich als «fortschrittlich» rühmenden Sozialismus waren nämlich alle «Reaktionäre», die nicht in der Partei waren, die nicht an die «welterlösende» Ideologie des Kommunismus glaubten, alle, die es wagten, eine Opposition zu bilden. «Reaktionär» war ein Codewort, unter diesem Label wurden politisch Andersdenkende in der Diktatur zum Schweigen gebracht, verfolgt, verbannt, verhaftet, im schlimmsten Fall auch hingerichtet, ermordet. Wenn ich heute lese, wie Wladimir Putin in Russland gerade die im Herbst anstehenden Wahlen vorbereitet, wie die russische Justiz Oppositionelle wie Nawalny und seine Antikorruptionsstiftung als «extremistisch» und «terroristisch» einstuft, erkenne ich die Methode wieder – lediglich das Codewort hat sich geändert.

In freien, offenen Demokratien, wie wir sie im Westen geniessen, werden Meinungsverschiedenheiten anders ausgetragen: Gegenmeinungen sind hier nicht nur erlaubt, sie sind ausdrücklich gefragt. «Der Wert eines Dialogs», sagte Karl Popper, hänge «von der Vielfalt der konkurrierenden Meinungen» ab. Wir tun gut daran, diesen Wert nicht nur zu schätzen, sondern auch zu pflegen. Denn diese Freiheit musste errungen werden. Zu glauben, dass sie ewig bei uns bleibt, wäre eine Illusion. Gerade auch Widersprüche und Ambivalenzen auszuhalten, will immer wieder neu gelernt sein.

Erst im März dieses Jahres lehnte der Rat für deutsche Rechtschreibung, ein zwischenstaatliches Gremium aus 41 Wissenschaftern und Sprachpraktikern, eine massgebende Instanz für die deutsche Rechtschreibung, die Gender-Schreibweisen (zum wiederholten Male) ab. Nicht weil er den Anspruch, allen Menschen mit geschlechtergerechter Sprache zu begegnen, nicht teilen würde – das tut er ausdrücklich. Die Ratsmitglieder sind aber der Auffassung, dass diese «gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Aufgabe (. . .) nicht allein mit orthographischen Regeln und Änderungen der Rechtschreibung gelöst werden kann».

Von manch selbsternanntem Spracherneuerer werden aber längst Fakten geschaffen: Auf die Initiative von Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten gelten an zahlreichen Universitäten, in Behörden und Ämtern «Leitlinien», die nicht nur dem geltenden Regelsystem zuwiderlaufen.

Einfachheit und Klarheit

Dabei ist das Einhalten von verbindlichen und allgemein anerkannten Regeln auch in der Sprache elementar, nämlich für das menschliche Zusammenleben. Ohne Sprachnormen gibt es keinen Sprachgebrauch, ohne Sprachgebrauch keine Kommunikation. Erst das verbindliche Regelwerk ermöglicht eine Verständigung innerhalb einer Sprachgemeinschaft. Und noch etwas: Sprachnorm sichert sogar Gerechtigkeit, indem sie dafür sorgt, dass niemand ausgegrenzt wird. Indem sich eifrige Gender-Advokaten ausgerechnet im Namen der Gerechtigkeit über die Sprachnorm hinwegsetzen, mit dem Argument, «ein Grossteil der Gesellschaft» sei vom heutigen Sprachgebrauch exkludiert, exkludieren sie einen Teil der Gesellschaft als «Rückwärtsgewandte», «Ewiggestrige», «Fortschrittshemmer» und «Reaktionäre».

Als Germanistin mit einer Muttersprache, die zwischen Esel und Eselin («szamár») nicht unterscheidet – das Ungarische kennt kein grammatisches Geschlecht –, bin ich auch dem Argument gegenüber skeptisch, eine durch Asteriske «gerecht» gemachte Sprache bewirke die Gleichstellung von Frauen. Immerhin steht der Bundesregierung seit 16 Jahren eine Bundeskanzlerin vor – unvorstellbar in Ungarn, obwohl die Sprache dort genderneutral ist. Dort regieren fast ausschliesslich Männerkabinette.

Aber bietet der Gender-Gap, wie die Universität Bielefeld behauptet, wirklich «Freiraum» für die Entfaltung von Geschlechteridentitäten? Vermag ein Unterstrich die «Entfaltung von Geschlechteridentitäten» zu fördern? Ist überhaupt die Kennzeichnung der Sexualität relevanter als die Sprachökonomie?

Schon Doppelnennungen wie «Ärzte und Ärztinnen», «Kunden und Kundinnen» widersprechen zwar nicht der Grammatik, aber der Sprachökonomie. Was im Englischen mit «Dear colleagues» und «Dear visitors» gesagt ist, heisst im Deutschen «Liebe Kolleginnen und Kollegen», «Liebe Besucher, liebe Besucherinnen». Die Kürze ist nicht des Deutschen Stärke; Doppelform-Nennungen machen die Sache nicht besser.

Sprache strebt nach Einfachheit, nicht nach Kompliziertheit – und schon gar nicht nach ideologisch begründeten Regeln. Die Zunahme von Sprachsensibilität und kritischem Sprachbewusstsein ist ausdrücklich begrüssenswert. Aber der Sprachwandel funktioniert nicht ohne Konsens, nicht nach frei erfundenen Regeln und schon gar nicht auf Kommando.

Sprache (auch sie!) blüht nur in freien Gesellschaften. Dass dem so ist, zeigen Beispiele in der Geschichte. Die Revolutionierung der deutschen Sprache hatte sich auch der SED-Staat vorgenommen. Walter Ulbricht, der ab 1950 den DDR-Sozialismus aufbaute, wollte auch die Sprache «sozialistisch» erneuern. 1970 verkündete er vor dem 13. ZK-Plenum der SED, dass die einstige Gemeinsamkeit der deutschen Sprache in Auflösung begriffen sei. Das Ziel, sich auch durch die Sprache von der BRD abzusetzen, sei erreicht. Wehrdienst sollte fortan «Ehrendienst» heissen, Bodybuilding «Körperkulturistik», der Fremdenführer «Stadtbilderklärer». Für diese ideologisch motivierte «Spracherneuerung» kreierte die Ostberliner Akademie der Wissenschaften eigens Kategorien, so gab es «Neuwörter», «Neuprägungen» und «Neubedeutungen» wie «Kombine», «Plandiskussion» und «Wohnraumlenkung».

Und weil der neue Tanz der Amerikaner, der Rock'n'Roll, den kommunistischen Machthabern ein Dorn im Auge war – zu sehr sprudelte daraus das freiheitliche Lebensgefühl des Westens –, erfand der SED-Staat einen eigenen Tanz als Ersatz, den Lipsi (nach «lipsiens», lat. für «Leipziger»).

Aber Ulbricht hatte nicht recht behalten. Die Gemeinsamkeiten der Sprache haben sich nicht ­aufgelöst. Aufgelöst haben sich der SED-Staat und der kommunistische Ostblock, mitsamt sozialistischer Spracherneuerungen. Die kreativsten Wortschöpfungen, von denen auch manches erhalten geblieben ist, kamen nicht vom Staat, ­sondern vom Volk. Liebevoll in Erinnerung bleibt wohl die «Rennpappe», ein Kosewort für den Trabant: Das enge Verhältnis der Deutschen zu ihren Autos konnte auch der SED-Staat seinen Bürgern nicht nehmen.

Poppers Warnung

Weder in der Diktatur noch in der freien Gesellschaft kann Sprache also durch Verordnung oder Zwang «erneuert» werden. Der eben schon zitierte Popper, ein grosser Freund der offenen Gesellschaft, gab zu bedenken: Von allen politischen Idealen sei der Wunsch, die Menschen glücklich zu machen, vielleicht am gefährlichsten. Er führe unvermeidlich zu dem Versuch, anderen Menschen «höhere Werte» aufzuzwingen, «ihre Seelen» zu retten. Der Versuch, den Himmel auf Erden zu errichten, sagt Popper, erzeuge stets die Hölle.

Nun führt Gendern nicht in die Hölle und auch nicht zum allgemeinen Glück, nicht zum Weltuntergang und nicht zu der «gerechten Welt», wie politische Ränder links und rechts es hin und wieder weismachen wollen. Es zeugt aber von einem elitären Denken, das Sprachnorm und Sprachgemeinschaft ignoriert. Und es zeugt nicht zuletzt von einem Missverständnis bezüglich der Rolle von gewählten Politikern in einer freien Gesellschaft: Nicht der Glaube an die eigene Vernunft soll sie führen, sondern, um es wieder mit Popper zu sagen, der Glaube an die Vernunft der anderen.

 

[Main topics] [Navigation]
 URL:  Created:2021-08-04  Updated:
© NZZ und andere    
  Business of Docu + Design Daube Documentation issues Sharing information Klaus Daube's personal opinions Guests on this site Home of Docu + Design Daube To main page in this category To first page in series To previous page in series To next page in series To bottom of page To top of page Search this site Site map Mail to webmaster