[Main topics] [Navigation]

Identitätskrise, amtlich verordnet

Jawohl, es gibt Schlimmeres als gedankenlos gestreute Anglizismen, nämlich gedankenlos gestreute Übersetzungen von selbigen. Der verbreitete Unsinn, von «social media» die «sozialen Medien» abzuleiten, lässt sich wohl kaum mehr aufhalten. Dabei stehen die unter dieser Bezeichnung laufenden Kommunikationskanäle nicht zwingend im Ruf, sich explizit in den Dienst von Bedürftigen zu stellen, sondern eher im Verdacht, das leibhaftige Sozialverhalten der sogenannten User zu beeinträchtigen. Und müssen nun eigentlich Zeitungen als asoziale Medien gelten?

Urs Bühler

Aber es kommt noch dicker. Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement hat unlängst die Öffentlichkeit wissen lassen, der Bundesrat wolle «den nötigen Rahmen schaffen für elektronische Identität». Der geneigte Bürger fuhr zusammen, die geneigte Bürgerin sicherlich auch (wobei die Geschlechtergrenze sich in der künftigen Daseinsform wohl ohnehin auflösen wird): Nun wird also Realität, was uns Science-Fiction-Autoren prophezeit haben. Wir stehen kurz davor, vom weltweiten Netz wahlweise geschluckt oder geklont zu werden. Dass Letzteres passiert, ahnt man schon lange in Zeiten, da Facebook-Accounts als existenzieller Existenznachweis gelten und selbst Qualitätsmedien ihr Kaderpersonal zu Mutanten ohne Fleisch und Blut machen, indem sie in Inseraten «digitale Produkteverantwortliche» suchen oder «digitale Blattmacher» beschäftigen.

Höchste Zeit also, unsere Daseinsform komplett zu digitalisieren, mit freundlicher Unterstützung der Landesregierung, die uns im Communiqué ferner die «Ausstellung von elektronischen Identitäten» in Aussicht stellt. Selbstverständlich gibt es dazu, wie zu fast allen amtlichen Erfindungen, eine griffige Abkürzung, die der Bund zumindest in seinen englischsprachigen Unterlagen zur angeblichen «Electronic Identity» überaus sinnstiftend liefert: «e-ID». Wahrlich: Für die Schwurgemeinschaft der e-ID-Genossinnen und -Genossen bricht dadurch eine neue Ära an.

Aber nein, durchatmen, bitte! Mit geblähten Nüstern rückt der Amtsschimmel weiter unten im Text die Verhältnisse zurecht: «Der Bundesrat will rechtliche und organisatorische Rahmenbedingungen für die Anerkennung von elektronischen Identifizierungsmitteln und deren Anbieter schaffen». Haben wir den verwaltungstechnischen Nominalstil verdaut und uns den Kopf über einen möglichen Fallfehler bei den zu anerkennenden Anbietern zerbrochen, können wir uns beruhigt zurücklehnen.

Es geht also bloss um Identitätsnachweise wie digitale Pässe, um «electronic identification» vielleicht, jedenfalls nicht um Identität. Diese ist in Wörterbüchern definiert als völlige Übereinstimmung einer Sache oder Person mit dem, was sie ist oder als was sie gilt, im psychologischen Sinn als empfundene innere Einheit, das «Selbst». Es kann die Identität suchen, selbst wer seinen Pass nie verlor, aber wer sie nachweisen will, braucht heute Papiere oder eine Karte dafür. Das wäre somit hoffentlich wieder einmal geklärt, ehe uns eine Identitätskrise ereilt.

Bloss: Ein Blick in die Zeitungsspalten zeigt, dass kantonale Behörden die begriffliche Nebelpetarde schon willfährig weiterverbreiten: Soeben hat uns beispielsweise das Communiqué mit dem Titel «Zürcher Vorschlag zur elektronischen Identität» erreicht. Und auch in der Presselandschaft wird fleissig mitgezogen – bereits finden sich in der (elektronischen) Schweizer Mediendatenbank Dutzende von Einträgen zur «elektronischen Identität».

Ach, falls die Internetrevolution ihre Kinder nicht frisst, dann doch deren Verstand, ehe sie zu Avataren mutieren.

[Main topics] [Navigation]
 URL:  Created: 2017-06-12  Updated:
© NZZ    
  Business of Docu + Design Daube Documentation issues Sharing information Klaus Daube's personal opinions Guests on this site Home of Docu + Design Daube To main page in this category To first page in series To previous page in series To next page in series To bottom of page To top of page Search this site Site map Mail to webmaster